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von Kerstin Schmidt

Keri Hulme: "Unter dem Tagmond"

Dieses ist mein Lieblingsbuch. Es spielt am anderen Ende der Welt - an der wilden und verregneten Westküste der Südinsel Neuseelands - und es hat doch so viel zu tun mit den Dingen, die täglich um uns herum vorgehen.

Drei Menschen stehen im Mittelpunkt: eine Frau, ein Mann und ein Junge. Kerewin, die Malerin, die nicht mehr malen kann, hat sich an der Küste einen Turm gebaut und die Brücken zu ihrer Familie und zu ihren Maori-Vorfahren abgebrochen. Als der stumme Junge Simon sich in ihr Refugium verirrt, fühlt sie sich gestört und will den Eindringling sofort vertreiben. Dann jedoch entwickelt sich eine eigentümliche Beziehung zwischen ihr und dem merkwürdigen Kind, über dessen Herkunft es nur Vermutungen gibt. Der Maori Joe, Simons Pflegevater, glaubt zunächst an ein neues Familienglück und begleitet den Jungen gern bei seinen Besuchen in Kerewins sonderbares Zuhause. Seit dem Tod von Frau und Sohn ist er mit Simon allein und oft überfordert. So kommt es immer wieder zu brutalen Ausbrüchen gegenüber dem Pflegesohn, der ihn trotz allem bedingungslos liebt und die Folgen der väterlichen Gewalt auch vor Kerewin versteckt.

In einer schwierigen Spirale von Annäherung und immer wieder gewollter Distanz entwickelt sich zwischen den dreien letztendlich eine Beziehung, die nur wenig mit einer herkömmlichen Familie gemein hat - in der jedoch tiefe Gefühle genauso vorhanden sind wie verzweifelte Versuche, Unabänderlichkeiten nicht hinzunehmen. Dabei ist die wilde Schönheit der rauhen Landschaft und die wundervolle Mythenwelt der Ureinwohner allgegenwärtig.

Den Entwicklungsprozess dieser drei Figuren habe ich persönlich als sehr schmerzhaft erlebt. Denn im Verlauf der Handlung gewinnen Bitterkeit und Ausweglosigkeit immer wieder die Oberhand - und Wut und Gewalt lassen den einzelnen und die sonderbare Beziehung beinahe vollständig zerbrechen. Es scheint kein hoffnungsvolles Ende mehr möglich - und der Ausgang der Geschichte lässt auch viel Raum zum Nachdenken und Hinterfragen. Wie wichtig sind die traditionellen Bindungen für den einzelnen? Wie kommt es, dass Liebe, Hass und Gewalt oft so nah beieinander zu finden sind? Nehmen wir die Schwächen oder Probleme anderer Menschen immer ernst genug - oder gehen wir nicht allzu gern leichthin darüber hinweg? Und wissen wir um die riesengroße Verantwortung, die wir tragen, wenn wir Einfluss nehmen auf die zerbrechliche Seele eines Kindes?

Ich habe danach kein Buch gelesen, das mich in dieser Weise berührte.

Keri Hulme

Unter dem Tagmond

Fischer Taschenbuch Verlag, 654 Seiten, Taschenbuch, EUR 9,90

Keri Hulme wurde für "Unter dem Tagmond" im Jahre 1985 mit dem Booker-Prize - dem wichtigsten britischen Literaturpreis - ausgezeichnet. Sie lebt auf der Südinsel Neuseelands in einem Haus am Strand, das um einen Baum herum gebaut ist. Keri Hulme liebt das Fischen und lange Spaziergänge am Strand. Das Meer, der Wind, der Regen, die Mythen und die gegenwärtigen Probleme ihres Volkes - sie ist zu einem Achtel Maori - geben ihr die Inspiration für neue Texte, an denen sie oft sehr lange feilt.

aus einer eMail der Autorin:
"It is a long way from here to - there, where you all live. Words (I hope, in the form of stories etc.) reach over the thousand thousand miles..."


Aus dem Vorwort zur ersten Auflage des Romans:


Normen in einem nicht genormten Buch

Dieser Roman war zunächst eine Kurzgeschichte mit dem Titel "Simon Peter's Shell". Ich tippte sie auf meiner ersten Schreibmaschine an den Abenden nach der Arbeit auf den Tabakfeldern von Motueka. Die Schreibmaschine war ein Geschenk meiner Mutter zu meinem 18. Geburtstag, aber das ist eine Geschichte für sich.
"Simon Peter's Shell" begann, sich zu einem Roman auszuweiten. Die Figuren wollten nicht mehr weichen. Sie brauchten zwölf Jahre, um diese Gestalt anzunehmen. Für mich ist es eine vollendete Gestalt, so vollendet, dass ich nichts mit einer Änderung zu tun haben möchte. Weshalb ich das ganze auch schon in einem Block aus Plexiglas einbalsamieren wollte, als es die ersten drei Verleger abgelehnt hatten, unter anderem mit der Begründung, es sei zu umfangreich, zu sperrig, zu anders, verglichen mit der normalen Form des Romans.
Da erschien, zum Klang von Trompeten und Kaurirasseln, die Spiral Collectiv.
Das kollektive Verlagswesen erfordert, daß Individuen individuell arbeiten. Die Kommunikation mit mir war schwierig - ich wohne 500 Meilen entfernt, habe kein Telefon, und die Post wird mir nur unregelmäßig zugestellt -, und daher wurde nie ein Konsens über kleinere Feinheiten der Zeichensetzung erreicht. Ich liebe die Abwechslung...
Vielleicht waren die Herausgeber zu nachsichtig mit meinen Experimenten und Exzentrizitäten. Großartig! Die Stimme des Autors hatte sich durchgesetzt.
Für diejenigen, die eine bestimmte Norm gewohnt sind, mag dieses Buch einen zunächst fremdartigen Geschmack haben - wie die erste Mundvoll Kina roe. Halten Sie aus. Kina kann zu einer Lieblingsspeise werden.


Leseprobe:


Eine Stunde später ist das Gespräch in Mäandern beim Fischen angelangt: Fischen im Meer, Kerewins Vorliebe und Spezialität, gegen Fischen in Flüssen und Seen, worin Joe, wie er bescheiden zugibt, Experte ist.
"Nicht wirklich", sagt er kläglich. "Ich weiß eben nur, wo man die Fische findet. Sie auf orthodoxe Weise herauszuholen, das macht mir Schwierigkeiten."
"Die vom Ministerium für Öffentliche Anlagen ausgesetzten Elritzen", sagt Kerewin lachend, aber er gibt sich schockiert. Simon ist beinahe eingeschlafen, aber er rührt sich jedesmal, wenn sich einer von ihnen bewegt, um das Feuer zu schüren, oder Zigaretten hinüberzureichen.
"Entschuldigen Sie mich eine Minute", sagt Joe schließlich und geht in die Küche. Er kehrt kurz darauf mit einer runden Flasche zurück.
"Komm, Tama, Zeit, schlafen zu gehen."
Zwei Teelöffel von etwas, was wie Himbeersirup aussieht.
Sie liest das Etikett.
"Tricloryl!" Ihre Stimme überschlägt sich, als sie dieses Wort ausspricht. "Zum Teufel, er ist doch wohl noch ein bißchen zu klein für diese Art von Medizin?"
"Ich habe Ihnen gestern abend erzählt, wie es ihm mit dem Schlafen geht", sagt Joe sanft. "Auf diese Weise haben wir wenigstens beide unsere Nachtruhe. Sonst hat er Alpträume um zwei Uhr morgens, und ich brauche drei Stunden, um ihn wieder zu beruhigen. Nacht für Nacht ist das kein Spaß."
"Das kann ich mir vorstellen."
Er hält Simon wie ein Baby, und das bringt ihr wieder zum Bewusstsein, wie schmächtig der Junge ist.
"E moe koe", sagt der Mann zärtlich und küßt das Kind, dunkles Haar fällt über blondes.
"Sieh zu, ob du morgen etwas ganz Ungewöhnliches tun kannst", er stellt ihn auf die Füße. "Zum Beispiel zur Abwechslung einmal ein guter Junge sein."
Simon grinst, beinahe im Stehen schon schlafend. Er schwankt auf Kerewin zu, streckt die Arme aus, und Kerewin duckt sich. "E, er will nur gute Nacht sagen", sagt Joe.
Wann habe ich zum letztenmal jemanden geküßt?
als ihr der Junge einen Gutenachtkuß gibt und ihr die Arme um den Hals legt. Und so bleibt. "Ich nehme ihn, wenn Sie wollen." Joe steht rasch auf und öffnet die Arme, er sieht, wie sie immer verlegener wird, wenn auch Simon nichts davon spürt. "Ich bin den Umgang mit Kindern nicht gewohnt", sagt sie, steht ebenfalls auf und hält Simon ungeschickt von sich weg. "Hm." Wie gibt man einen beinahe im Koma liegenden Bengel weiter, der sich fest um meine Wirbelsäule gewickelt hat? Die Arme jedenfalls, bemerkt der Schlangenhai höhnisch. Ein Kind als Schal? Na, komm ... War einst eine junge Dame aus, wenn?s das gibt, Rungen, die sprach, trotz Verlegenheit ungezwungen: Ich versteh? ihre Frage nach dem Schal, den ich trage. Nun, ?s ist ein Gör, zum Knoten geschlungen.
Aaauu.
Sie starrt ins Feuer, während Joe das Kind zu Bett bringt.
Zum letztenmal habe ich meinen älteren Bruder geküßt, vor dem großen Bruch. Sein Kuß schmeckte nach Rum. Dieser Kuß schmeckte nach Himbeeren, nach der Arznei, die Träume fernhält. Was für Träume hat er, die so schrecklich sind?
Strandgut, überlegt sie. Dazu gehören auch Dinge, die über Bord geworfen werden, um ein Schiff zu erleichtern ...
Träume vom Verlassenwerden, vom Ertrinken, während die Angehörigen in den hungrigen Wellen versinken?
"Joe", sagt sie, als er zurückkommt und die Tür schließt, "darf ich Sie nach etwas fragen, was Sie gestern abend sagten?"
"Bitte. Was war es?"
"Sie sagten, als wir von Simons Alter sprachen: ?Hier kann ich Ihnen etwas von dem Strandgut vorstellen.?". "Ach, das. Ja, das war auch die reine Wahrheit. Es würde allerdings eine Weile dauern, es zu erklären ... Interessiert es Sie wirklich? Ich habe seit Monaten und Monaten mit niemandem über mein sonderbares Kind sprechen können, außer mit Leuten in der Bar."
"Ich höre gern zu. Ich habe Zeit. Und ich möchte wissen, warum er in seinem Alter Alpträume hat."
"Fragen Sie ihn nicht", sagt er ernst. "Er kann es sich selbst nicht erklären, geschweige denn mir, und er hat nicht genug Wörter, um anderen Menschen etwas darüber zu sagen."
Er rekelt sich.
"Oooou-eh, hätten Sie gern noch Wein, während ich erzähle? Es ist noch eine Flasche übrig, und ich hatte angenommen, wir würden alle zum Abendessen austrinken." Er steht wartend da. "Oh, und falls Sie denken, ich hätte böse Absichten, ich glaube nicht, daß Sie das denken, aber nur für den Fall und mit der Bitte um Entschuldigung, daß ich davon spreche ... ich habe nicht die Absicht, die Lage irgendwie auszunutzen. Wissen Sie ...", er ist dunkelrot geworden vor Verlegenheit und sucht nach Worten.
"Ich habe nichts dergleichen gedacht."
Das ist eine faustdicke Lüge
"Sie sagten Abendessen, Joe. Es war köstlich. Mein Verstand hört ohnehin bei meinem Magen auf, aber ich habe ganz bestimmt nicht gedacht, daß Sie irgendwelche Hintergedanken haben. Wie das altmodische Alkohol bringt so manches brave Mädchen zu Fall", sie wirft den Kopf zurück und lacht. "Außerdem glaube ich, daß ich Sie beim Wein unter den Tisch trinken könnte. Ich habe sehr viel Übung."
"Ich auch", sagt Joe traurig. "Aber möchten Sie nun noch Wein?"
"Eine sehr gute Idee."

Mehr? —  Ausführliches Interview mit Keri Hulme (in englischer Sprache)

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