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von Lilo Herz

Henning Mankel: "Der Chinese"

Sicherlich hat der Autor dieses Buch nicht geschrieben, um damit die Aufmerksamkeit seiner Leser auf das Gastgeberland der Olympischen Spiele 2008 zu lenken. Dieses sportliche Ereignis sollte jedoch Anlaß sein, den „Chinesen“ unbedingt zu lesen.

Um seine Krimifans nicht zu enttäuschen, hat er als Rahmenhandlung einen spektakulären Kriminalfall, der sich in Schweden zugetragen hat, gewählt: einen Massenmord in einem abgelegenen schwedischen Dorf. Die Polizei ist ratlos, gibt es doch weder Tatverdächtige noch Motive für das furchtbare Massaker. Doch Mankel fackelt nicht lange: mit Hilfe eines am Tatort gefundenen roten Seidenbandes, das von einem Lampenschirm aus einem China-Restaurant stammt, legt er dem Leser eine „Chinaspur“ und verknüpft die nachfolgenden Handlungsstränge geschickt miteinander.

Der nächste Buchteil beginnt nämlich völlig abrupt mit der Schilderung des Schicksals einer bitterarmen chinesischen Familie im China des 19. Jahrhunderts. Und dieser Teil ist das Glanzstück des Buches. Seit Dostojewski und Gorki ist es bisher noch keinem Autor gelungen, so ein Stückchen wunderbarer Literatur über das Leben der entrechteten und geschundenen Menschen zu schaffen, wie es hier Mankel gelingt.

Er erzählt die Leidensgeschichte von drei Brüdern, die 1863 aus einem Dorf nach Kanton flüchten, um dort Arbeit zu finden. Sie werden jedoch gekidnappt und gewaltsam auf ein Schiff verschleppt, das sie nach Amerika bringt, wo sie für den Eisenbahnbau in Nevada schuften müssen. Bereits auf dem Schiff sind sie so furchtbaren Erniedrigungen und körperlichen und seelischen Grausamkeiten ausgesetzt, daß einen das Entsetzen packt. Die Hölle beginnt aber auf der Baustelle. Von den drei Brüdern überlebt nur einer. Er zeichnet das Geschehen in einem Tagebuch auf, das später einer seiner Nachfahren in die Hände bekommt.

Bei aller Begeisterung für die literarische Leistung des Autors, besonders in diesem Teil des Buches, kann ich mir aber eine kritische Bemerkung nicht verkneifen: Die Aufzeichnungen von einem Ahnen 140 Jahre später als Grund für eine massenhafte Ermordung der Nachfahren der damaligen Peiniger zu nehmen, halte ich für fragwürdig und nicht ganz glaubwürdig.

Dem Autor sind vielleicht ähnliche Zweifel gekommen, denn er beruft sich in seinem Nachwort auf sein „Recht auf Fiktion“. Recht hat er! Also nochmals: den „Chinesen“ lesen und weiterempfehlen und erfahren, wie ein Volk von einer Milliarde Menschen seine Probleme heute löst.

Henning Mankel

Der Chinese

Zsolnay, 608 Seiten, EUR 24,90

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