Startseite  Aktuelle
     Empfehlung
 Archivliste

Aus dem Archiv

von Kerstin Schmidt

Ernst Penzoldt: "Squirrel"


Wer lässt sich nicht gern überraschen?

Manchmal, wenn der Alltag ein bisschen geizig ist mit Überraschungen, dann muss man selbst nachhelfen. Jeden Morgen, wenn ich in mein Büro komme, rupfe ich als erstes das Kalenderblatt von meinem Literaturkalender - und sehe nach, ob mich vielleicht etwas ganz Ungekanntes erwartet, etwas, das mich staunen oder neugierig macht - oder vielleicht auch jemand Verheißungsvolles, einer, den ich unbedingt näher kennenlernen muss, der sich nur bis heute erfolgreich vor mir verstecken konnte.

Am Morgen des 27. Januar hatte ich wieder einmal Glück. Es war just der fünfzigste Todestag eines gewissen Ernst Penzoldt. (Kalenderblätter sind ganz versessen auf Geburtstage oder Todestage, die sich zum fünfzigsten, hundertsten oder fünfhundertsten Male jähren.) Ich blickte also in das Antlitz eines mir bis dahin unbekannten Schriftstellers - und er war mir auf Anhieb sympathisch. Und mit dem Büchlein, welches mir das Kalenderblatt empfahl, erging es mir nicht anders.

"Squirrel". Ein merkwürdiger Name für eine Erzählung aus der Mitte der fünfziger Jahre. Und komisch, dass ich zufällig vor ein paar Tagen gerade nachgeschlagen habe, was dieses Wort auf Deutsch heißt. (Nach einem Wechsel des Internetanbieters musste ich ein munteres WebMail-Programm einrichten, das auf den putzigen Namen "Squirrel-Mail" hört...) Squirrel also. Das Eichhörnchen. Ein äußerst reizendes Geschöpf, dessen flinker Anmut und knopfäugiger Unbekümmertheit man sich nur schwer entziehen kann. Es ist verspielt, schusselig - und eigentlich nutzlos. Nutzlos? Ist etwas nutzlos, das uns immer wieder Freude macht?

Diese Frage stellt auch Ernst Penzoldt, der in seinem schmalen Büchlein mit uns in die eher trostlosen Verhältnisse irgendeiner Vorstadt eintaucht. In ein kleines schrägstehendes Vorstadthäuschen, wo die vierköpfige Familie Kuttelwascher gerade beschlossen hat, gemeinsam Selbstmord zu begehen. (Dass daraus nichts wird, haben sie allein ihrer lebenslustigen Katze zu verdanken...) Doch dann finden sie Squirrel auf der Straße, einen jungen Landstreicher, der - sobald er die Augen aufschlägt, "groß und blau" - in wenigen Stunden das Herz der gesamten Familie erobert.

Squirrel ist ein Nichtsnutz - und alle lieben ihn. All das, was das Leben der tüchtigen und dennoch verdrossenen Menschen tagtäglich ausmacht, ist ihm völlig fremd und unverständlich: Besitz, Sesshaftigkeit, Termine, Pflichten, wohlgemeinte Lebensziele. Sorglos lebt er in den Tag hinein, genießt das Hier und Jetzt, bleibt in allem unverbindlich, kann nicht böse sein, mag aber auch nicht gut sein - und verzaubert durch sein reizend unbekümmertes Wesen sogar den spießigen und phantasielosen Beinahe-Schwiegersohn der Kuttelwaschers.

Das klingt vielleicht wie ein modernes Märchen für Erwachsene - wären da nicht die Fragen, die uns Squirrel immer wieder unvermittelt stellt: Sie erinnern an diese schwer zu beantwortenden Kinderfragen und lassen einen "Hoppla!" denken. "Hoppla, ja, verdammt, warum tun wir das alles eigentlich? Warum ist uns dies und jenes so wichtig - und anderes nicht?" Nein, es sind keine aufrührerischen oder ketzerischen Fragen. Sie pieksen nicht, sie nehmen uns eher liebevoll-nachsichtig an die Hand. Einfach so, wie es Squirrels Art ist.

So meint der anfangs sehr verbitterte Kutt, der Familienvater der Kuttelwaschers, auf die Frage, ob sie sich denn von Squirrel alles gefallen lassen: "Uns gefallen, ja, das lassen wir ihn. Es bleibt uns schon gar nichts anderes übrig. Aber er stört nie. Arbeiten kann jeder, Squirrel aber erfreut." Nicht von allen Menschen könne man das behaupten. "Und", schloß er, "er erfüllt damit eine hohe asoziale Aufgabe."

Ich wünsche allen, die vorübergehend ihren Lebensmut oder ihre Lebensfreude verloren haben, sie mögen noch heute einen Squirrel auf der Straße finden. Aber da das so selten ist - schon beim Lesen dieses kleinen Büchleins von Ernst Penzoldt haben wir ihn für eine Weile bei uns!


Thomas Mann

Ernst Penzoldt zum Abschied (1955)


"... Er war mein Freund, war mir gerecht und treu. In München sah man sich oft; in meinem trauten Küsnachter Exil, zur Hitlerzeit, scheute er sich nicht, mich zusammen mit seinem Schwager Heimeran zu besuchen; und als ich 1949 zum ersten Mal wieder in München war, war er es, der mir in schönen, warmherzigen Sätzen die Begrüßungsrede hielt.

Aber den Jüngling schon, siebzehn Jahre nach mir geboren, lernte ich kennen: im Hause Bernstein zu München las er mit taktvoll gedämpfter Dramatik seine Novelle Der arme Chatterton vor, und gleich spürte ich Reiz und Rang seines Talentes, etwas unverkennbar Musisches, einen Geist zart schwebender Leichtigkeit und des romantischen Spottes über die plumpe und hässliche Mühsal eines von den Grazien ungesegneten Lebens, eingeschlossen das Erbarmen mit den Beleidigten, Verstoßenen und Darbenden, den Opfern einer verhärteten Gesellschaft - eine Sozialkritik des Herzens also, die unüberhörbar mitklang in all seiner Produktion, ohne ihrer poetischen Unschuld irgend etwas anzuhaben, ihre Leichtigkeit, ihre spielende Scherzhaftigkeit durch irgendwelche Schärfe stören zu können.

Aufgewachsen in einem fränkischen Gelehrtenhaus von musischer Atmosphäre, war er Künstler durch und durch, versucht von allen Erscheinungsformen der Kunst, begabt für alle. Er war Graphiker, Musiker, Bildhauer und nichts davon bloß dilettantischerweise. Aber die Literatur, der Dichter in ihm obsiegten über all diese Neigungen und Berufungen: Es war wohl die Powenzbande, deren ausgreifender Erfolg ihm bewies, wo seine eigentliche und tiefste Berufung lag, - im Zauber des Wortes, im Spiel der Idee, in der geistigen Formung. Ein lustiges Buch, diese Powenzbande, ein Schelmenstück, die kindlich-drollige Verschwörung kleiner sozialer Selbsthelfer gegen die "Ordnung" und ihre grimmige Dummheitsmiene und also so ganz und gar harmlos nicht. Das kann die Kunst nie sein und gerade Dichtkunst nicht; sie ist Harm von Natur, Produkt der Sensibilität, des Leidens am Groben, Schweren, Rohen, Hässlichen der Welt, dem sie das Feine, Leichte, Heitere, Gütige, Schöne in mahnendem Spott entgegenhält. Kunst ist Opposition, und so hat Ernst Penzoldt sie geübt sein Leben lang.

Als Schriftsteller, als ein Leidender und Mitleidender hat er gelebt und erlebt, hat, Sanitäter in zwei Weltkriegen, das Äußerste an grobem, grausamem Erdenernste erfahren und davon berichtet in dem Buch Zugänge, in der Erzählung Die Sense, die Suhrkamp, sehr passend, auf bitterste passend, in der Reihe "Beiträge zur Humanität" veröffentlichte. Beiträge zur Humanität - in diese Kategorie gehört alles, was er tat, gehört vor allem zuletzt noch das Höchste, Liebenswerteste, das ihm kurz vor dem Ende gelang: - Squirrel, ein Stück ursprünglich, das ich nicht kannte, ein schmaler Roman sodann von unbeschreiblichem Zauber, der mich tagelang glücklich machte. In einer Welt der Schwere und Plackerei, deren Bürger mühselig im Morast der Materie stapfen - die Erscheinung von etwas ganz Leichtem, Sorg- und Nutzlosem, kurzum: Poetischem, in der geheimnisvollen Person eines jungen Vagabunden, den man halb erfroren und verhungert auf der Straße findet und der während seines kurzen Verweilens, mit Ausnahme von ein paar ganz Gottverlassenen, alle Herzen gewinnt, allen etwas Überirdisches mitteilt, alle einen Augenblick bessert und dann wieder entschwindet - mehr ist es nicht, aber es ist entzückend. Nie ist das Lieblingsmotiv dieses Dichters, das im Grund der Ausdruck seiner eigenen Sendung ist, zu so vollem, reinem, spöttisch-sublimem, amüsantem und herzbewegendem Erklingen gekommen. Es war um die Zeit, als eben meine Krull-Memoiren erschienen waren und aus den und den Gründen viel gelesen und belobt wurden. Penzoldts Geschichte schien ein Kleines dagegen, aber ich fand sie besser. "Ich lasse mir nichts vormachen", schrieb ich ihm. "Ihr Squirrel ist eine poetischere Konzeption als der ganze Krull. Das ist eine Epiphanie."
"Sie sind ein guter Mensch", antwortete er mir.
Nein, er war gut, alles wurde gut, freundlich, stachellos, unpolemisch in seinem Munde, auch wenn es aus bitterem Leiden kam am hoffnungslos Dummen und Gemeinen. Er tat das Gute und redete zum Guten - eine Stimme in der Wüste natürlich; aber die Wüste schien bewohnbarer zu werden durch sein gütliches Wort..."

Mehr? —  Ernst Penzoldt bei Suhrkamp

 Startseite  Aktuelle
     Empfehlung
 Archivliste  nach oben