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von Juliane Cassedy

Ian McEwan: "Abbitte"

Ich befürchte, es wird mir nicht leicht fallen, Euch dieses Buch in wenigen Sätzen vorzustellen.

Denn dies ist ein so wunderbarer wie beklemmender Roman, der mit einer unnachahmlich feinen und eleganten Sprache die großen Themen der Menschheit und der klassischen Literatur behandelt: Das Erwachsenwerden, die Liebe und ihre Gefährdung, die vom Unbewussten beeinflusste Wahrnehmung der Realität, das Ringen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit sowie als großes zentrales Thema das Motiv von Schuld und Sühne und die Schwierigkeit zu vergeben.

Briony, die zu Beginn des Romans 13jährige introvertierte Heldin, sieht sich selbst als angehende Autorin, die schon einige kleinere Erzählungen erfolgreich verfasst hat. Die Aufführung ihres Theaterstückes, das sie anlässlich der Heimkehr ihres Bruders Leon geschrieben hat, droht allerdings zu scheitern. Die beiden jüngeren Cousins Jackson und Pierrot sowie die um zwei Jahre ältere Cousine Lola eignen sich schlecht als Schauspieler eines Liebesdramas, weil ihr eigenes Familienglück gerade zerbrochen ist.

Deprimiert von ihrem ersten Misserfolg beobachtet Briony aus der Ferne eine pantomimisch anmutende Szene, die sich am Tritonbrunnen zwischen ihrer älteren Schwester Cecilia und Robbie Turner, Cecilias einstigen Gefährten aus Kindertagen, abspielt. Briony deutet ihre Beobachtung als Offenbarung, als einen vom Schicksal gewährten Blick in die Welt der Erwachsenen, den sie mit ihrer noch kindlichen Wunsch- und Phantasievorstellung allerdings gänzlich falsch deutet.

In der Folge der sich überstürzenden Ereignisse glaubt Briony sich von der Vorsehung berufen, als einzige Augenzeugin ein geschehenes Verbrechen aufzuklären. Auf der Grundlage ihrer Wahrnehmungen stellt sie eine folgenschwere Verdächtigung so vehement als Wahrheit dar, dass sie das aufkeimende Liebesglück ihrer Schwester, das Leben Robby Turners - und schließlich ihr eigenes Leben zerstört.

Ich fühlte mich sehr oft an den Meister des psychologischen Romans, an Dostojewski erinnert. Es geling auch McEwan, scheinbar mühelos, die Charaktere seiner Figuren so zu zeichnen, das deren Handlungen gleichsam aus einem inneren Zwang heraus erfolgen.

Als großes Wetterleuchten, das den drohenden Untergang einer Menschheit, die sich an seinem Nächsten und Liebsten schuldig macht – sich schuldig machen muss, deutet McEwan im ersten Teil des Romans die Gefahr des Kriegsausbruchs nur an. Der zweite und dritte Teil spielt gänzlich im Krieg und erzählt von den Versuchen der beiden Antagonisten Robbie und Briony mit ihrem Leben und ihrer Schuld fertig zu werden. Man kann „Abbitte“ auch lesen als Warnung vor allzu gewagten Schlüssen, als Warnung vor Unbedachtsamkeit, als literarisches Pamphlet für die Notwendigkeit der Vergebung.

„Abbitte“ ist ein grandioses und wunderbares Kunstwerk, ein faszinierender packender und so liebevoll geschriebener Roman.

Ian McEwan

Abbitte

Diogenes Verlag, 544 Seiten, Taschenbuch, EUR 12,90

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