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von Kerstin Schmidt

Hans-Peter Dürr, Marianne Oesterreicher: "Wir erleben mehr als wir begreifen"

Quantenphysik und Lebensfragen


Jedes Wochenende lese ich in Christa Wolfs Buch "Ein Tag im Jahr" – jedes Wochenende einen 27. September. Letzten Samstag war es der aus dem Jahr 1982. Christa Wolf arbeitete zu dieser Zeit intensiv an der Kassandra-Erzählung. In ihren damaligen Aufzeichnungen zitiert sie aus einem Buch von Hans-Peter Dürr: "Der Wissenschaftler und das Irrationale"

Diese Zitate ließen mich neugierig werden und ich hakte nach. Beim Stöbern nach einem aktuellen Buch des Quantenphysikers Dürr stieß ich auf dieses unscheinbare Bändchen "Wir erleben mehr als wir begreifen" – mit dem passenden Magritte-Bild auf dem Cover und einem Untertitel, der mich gespannt machte.

Quantenphysik und Lebensfragen? Ein paar Mal hatte ich mich früher schon auf Schrödinger und seine Katze eingelassen. Aber so richtig verständlich wurden mir die neuen, ja revolutionären Erkenntnisse der modernen Physik nicht. Und dabei waren die Wissenschaftler, die vor fast hundert Jahren zu diesen neuen Ufern vorstießen, fest davon überzeugt, dass sich nun auch unser Weltbild und unsere Art zu denken grundlegend ändern würden. Aber dies ist nicht eingetreten.

"Wir haben heute das Denken des 19. Jahrhunderts, die Technik des 20. Jahrhunderts und nun wollen wir das 21. Jahrhundert mit dem falschen Denken und der richtigen Technik eröffnen." Hans-Peter Dürr ist sich sicher, dass auch Nicht-Quantenphysiker von den Erkenntnissen dieser schwer fassbaren Disziplin profitieren können. Er ist sogar der Meinung, dass der Mensch nur eine Zukunft hat, wenn er den Anspruch aufgibt, alles begreifen und damit auch alles gestalten zu können. Er muss die Offenheit, die Komplexität und die Unwägbarkeit der Wirklichkeit akzeptieren, sich wieder bewusster mit dem Erleben beschäftigen und das zwanghafte alles-wissen-verstehen-manipulieren-Wollen ablegen.

Dieses Buch ist das vergnüglich zu lesende Protokoll einer Begegnung: die Philosophin und Kunstwissenschaftlerin Marianne Oesterreicher trifft den charismatischen Quantenphysiker im ehemaligen Institutszimmer von Werner Heisenberg. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Gedankenreise ans Mittelmeer-Ufer, um im Dialog zu erforschen, ob und inwieweit ein in der Quantenphysik geschultes Bewusstsein näher an das Verständnis von Lebensfragen heranreichen kann. Viele Probleme werden immer wieder aus anderen Perspektiven betrachtet, zahlreiche Bilder, Metaphern und Parabeln machen den Ansatz des Naturwissenschaftlers auch für Nicht-Physiker verständlich.

Ein gelungenes – und sehr anregendes Buch, das man am besten mit jemandem gemeinsam liest, um die Dialoge dann "im Kleinen" fortzusetzen.


zu den Autoren:

Hans-Peter Dürr, Jahrgang 1929, studierte Physik, promovierte bei Edward Teller in Kalifornien, war Mitarbeiter und Freund Werner Heisenbergs, später Leiter des Max-Planck-Instituts in München, 1987 erhielt er den Alternativen Nobelpreis.

Hans-Peter Dürr ist Begründer der Initiative Global Challenges Network, einer Organisation, die ein Netz aus Projekten und Gruppen knüpft, die konstruktiv und gemeinsam an der Bewältigung der Probleme arbeiten, die uns und unsere natürliche Umwelt bedrohen.

Marianne Oesterreicher-Mollwo studierte Philosophie, Germanistik, bildende Kunst und Kunstgeschichte. Sie ist Herausgeberin und Autorin mehrerer Bücher.


Leseprobe:


Ich schaue hinaus auf das Boot unseres Fischers, der inzwischen angefangen hat, seine beiden Netze auszuwerfen. Eine winzige Gestalt, ein kleiner schwarzer Schattenriss im Gegenlicht.

„Es flimmert“, sagt Dürr. „Das, wovon die Neue Physik handelt, die Basis all unserer Erfahrungen, flimmert.“
„Es flimmert“, erinnere ich ihn, „wie der Schwarm kleiner Fische, die nicht ins Netz gehen – um das Bild aufzugreifen, das Sie so gerne für die Neue Physik benutzen. Sie haben es ja an verschiedenen Stellen verwendet.“

Die Erkenntnisobjekte der klassischen Physik sind so groß und zugleich so beschaffen, dass sie im Erkenntnisnetz des Physikers hängen bleiben. Aber das, wofür sich die Quantenphysik interessiert, das sind die ganz kleinen Fische. Ihre Schwärme gleiten durch die Maschen des Netzes hindurch. Deshalb sagt der klassische Physiker: Für mich gibt es das gar nicht! Ähnlich wie für den Fischer, der sich zunächst und letztlich überhaupt nur für die Fische interessiert, die er am Markt verkaufen kann. Und dazu muss er sie unbedingt er einmal fangen.
Das Bild des flimmernden Schwarms kleiner Fische – das hat dennoch etwas sehr Anziehendes. Warum aber möchte man mehr darüber wissen?
„Ja, und nun“, entgegnet Dürr, „sind wir wieder bei der Frage, die Sie schon einmal gestellt haben: Warum muss ich mich überhaupt interessieren für diese kleinen Fische, was habe ich davon, wenn ich etwas von ihnen weiß? Wie schon beim Fischer in unserer Parabel hat die Wirtschaft darauf eine eindeutige Antwort: Sie taugen nicht für den Markt, sind also ohne Bedeutung. Aber wir sind ja nicht nur ‚Fischer’ und ‚leben nicht vom Brot allein’. In welchem Sinne ist es für uns Menschen doch notwendig zu wissen, dass es die kleinen Fische gibt? Der eine Grund liegt wohl darin, dass wir nicht nur fischen, sondern ab und zu auch am Meeresstrand stehen und ins Wasser schauen und kleine Fische sehen, von denen dann fast jeder sagt: optische Täuschung! Siehst du nicht... schon weg! Man weiß ja, wie das ist, wenn man jemandem etwas zeigen will, das sich nur kurz zeigt, und der andere sagt, du spinnst ja. Oder der andere sagt, ach ja, ich habe auch so etwas Ähnliches erlebt, und dann weiß ich nicht, ob er dasselbe gesehen hat wie ich. Dann läuft der Dialog: ja, ja, so ungefähr so, ja, ja – aber, der eine hat dann nur zwei Flossen gesehen und der andere hat einen komischen Kopf gesehen und dann weiß man schon nicht mehr, ob man wirklich dasselbe gesehen hat. Aber von der Bewegung her sagt man, ja, es war da, und dann, zack, war es weg. Dann überlegt man, vielleicht war es doch dasselbe ... Aber niemand nimmt das ernst, weil dann ein dritter dazu kommt, der es noch nie gesehen hat, und ein vierter hat wieder etwas ganz anderes gesehen ... Und dann sagt man, okay, Privatvergnügen. Dann kommt aber dazu, dass man feststellt, ja, irgendwo ist dieses Gucken ins Wasser doch gar nicht so schlecht, wenn du Fische fangen willst. Irgendwann siehst du, Mensch, da ist ja ein ganzer Schwarm von Fischen, hast du ihn gesehen? Später werfe ich mein Netz rein an dieser Stelle, und siehe da, ich habe einen ergiebigen Fang gemacht, weil auch größerer Fische dabei waren. Oder du hast in einem Teich kleine Fische gesehen und auf einmal stellst du fest, wenn du ein Jahr lang wartest, dann sind sie so groß, dass du sie fangen kannst. Also hast du von etwas, was du nicht begreifen konntest, einen Nutzen gehabt. Du hast auf diese Weise einen Zusammenhang erfahren.“

Mehr? —  Hier erleben Sie Hans-Peter Dürr in einem Online-Video.

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