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von Joachim Kohs

Christoph Hein: "Landnahme"

Nach der letzten Seite, dachte ich: Endlich. Endlich hat einer der für mich größten ostdeutschen Schriftsteller, einer der „Der fremde Freund“, „Horns Ende“ und „Der Tangospieler“ geschrieben hat, endlich hat Christoph Hein wieder einen großen Roman vorgelegt.

Die Geschichte von Bernhard Haber, einem Vertriebenen, der mit seinen Eltern 1950 in eine kleine ostdeutsche Stadt kommt. Die Familie wird dort nicht gerade freundlich aufgenommen, aber sie schaffen es Fuß zu fassen. Der Bogen der Geschichte spannt sich von 1950 bis zum Ende der neunziger Jahre. Der Weg eines Vertriebenenjungen zum gutsituierten Unternehmer ist eine sehr gut lesbare, spannende und manchmal sogar witzige fiktive deutsche Biographie. Christoph Hein hat damit ein Stück deutsche Geschichte skizziert, die so nicht im Geschichtsbuch auftauchen wird, die aber zum Verständnis unserer Vergangenheit wichtiger sein könnte als Zahlen und Fakten.

Hein erzählt dieses Leben aus der Sicht von fünf verschiedenen Menschen, die mehr oder weniger eng das Leben von Bernhard Haber tangieren. So unterschiedlich wie das Verhältnis der fünf zum Haupthelden, so unterschiedlich sind auch die Eindrücke und Biographiebruchstücke der Einzelnen, die der Leser erhält.

Ich glaube, Hein ist etwas gelungen, das exemplarisch für ganz viele ostdeutsche Biographien ist. Man hat sich eingerichtet. In dem Moment wenn sich keine Alternativen zeigen, richtet sich der Mensch ein. Immer wird es Ausnahmen geben, sprich Menschen, die bis ins Innerste völlig konform mit den jeweils Herrschenden gehen, oder Menschen die sich aktiv innen und außen dagegen auflehnen. Aber der größte Teil der Menschen richtet sich im jeweiligen System ein und versucht, das für sich machbare zu erreichen.

Der Roman ist für mich ein Spiegelbild der Gesellschaft – nicht nur der ostdeutschen. In ihm werden sich viele aus der Generation der Hauptfigur zu einem kleinen Stückchen selber wiederfinden.

Christoph Hein

Landnahme

Suhrkamp Verlag, 360 Seiten, EUR 19,90

Leseprobe

Sie lief hinaus und knallte die Tür zu. Sie war wütend auf mich, was mir Leid tat, aber ich war wirklich sprachlos. Es mag ja sein, dass ich etwas zu früh damit begonnen habe und dass mir die Kerle halt besonders gut gefallen, vielleicht hatte Mutter Recht und ich war mannstoll, na, und wenn schon, jahrelang mit einem festen Freund gehen und sogar die Nächte mit ihm verbringen und dabei das Jungfernhäutchen zu behüten, das erscheint mir noch heute abwegig. Ich kannte Rieke und wusste, dass sie eine ulkige Nudel war, nur wieso Bernhard das mitmachte, war mir unbegreiflich. Er war ein gut aussehender Kerl, nicht sehr groß, aber stämmig gewachsen. Und er hatte irgendetwas an sich, das mir gefiel und sicher nicht nur mir. Er redete nicht viel, insofern hätte er gut zu mir gepasst, denn ich redete immer gern, und Bernhard brachte es fertig, eine Stunde mit uns im Zimmer zu sitzen und nichts zu sagen. Er lächelte und schwieg, und wenn er einen ansah, da strahlte etwas von ihm aus. Er strahlte einen ganz bestimmten Geruch aus, würde ich sagen, wenn das nicht unsinnig wäre, weil ein Geruch nicht strahlen kann. Er konnte schweigen, und man hatte nicht das Gefühl, dass er einem nichts zu sagen hat. Man spürte bei ihm, dass er ganz genau wusste, was er will, und dass er alles durchsetzen würde, was er sich vornahm. Wenn er mich minutenlang ansah und dann meine Hand anfasste, bekam ich sofort ein Fell, denn alle Härchen auf meinem Arm standen augenblicklich aufrecht. Er konnte einen aber auch angucken! Er starrte nicht, er blickte einem unverwandt und freundlich in die Augen, und auf der Stelle roch ich diesen Geruch, er verströmte einen Duft von Kraft und Entschlossenheit. So muss ein Vulkan riechen, bevor er ausbricht. Er war ein richtiger Mann, und darum konnte ich überhaupt nicht verstehen, dass er sich auf die dummen Spielchen von meiner Schwester einlässt. Ich hatte gedacht, er hätte sie gleich genommen, gleich bei ihrer allerersten Verabredung, denn genau danach roch er.

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