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von Kerstin Schmidt

Wolfdietrich Schnurre: "Als Vaters Bart noch rot war"

Ein Roman in Geschichten


Wer lässt sich nicht gerne Geschichten erzählen? Meistens erzählen ja große Leute kleinen Leuten Geschichten. In diesem Buch aber ist es umgekehrt: Der Junge Bruno nimmt uns an die Hand und führt uns in sein Berlin – ins Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre.

Und er beobachtet verdammt gut, der kleine Kerl mit dem großen Herzen. Bilder, Gerüche, Situationen, Empfindungen – alles erscheint sehr echt und lebendig. Der leise Kummer seines meist arbeitslosen Vaters entgeht dem Jungen genauso wenig wie das besondere Verkaufsgeschick eines Händlers auf dem Pferdemarkt. Nein, die große Stadt geht in dieser Zeit nicht sehr fein mit den einfachen Leuten um. Darum gibt es auch nur wenige Geschichten mit einem echten Happy End. Aber der besondere Blickwinkel – Kinder glauben schließlich noch voller Inbrunst an das Gute und an Wunder – vermittelt gleichzeitig einen spröden Abstand zur Wirklichkeit und dennoch ihre unmittelbar erlebte Nähe...

Bruno lässt uns teilhaben an den vielen kleinen und großen Geschehnissen seines Alltags: der erste Leierkasten im Jahr, der letzte Wunsch seiner Freundin Hertha, seine Erfahrungen mit Zwergen, das Brötchenwettessen auf dem Jahrmarkt, die Vorlieben des Zigeunerjungen Jenö... Die Menschen, die er beschreibt, werden so plastisch, dass man sie beinahe anfassen kann: Frieda, die Freundin des Vaters, Pagoden-Ede, der Feind auf dem Weihnachtsmarkt, oder der unglückliche Willi – und nicht zuletzt der Vater selbst: in seinem unermüdlichen Bemühen, die traurigen Auswirkungen der schwierigen Zeit von seinem Sohne fernzuhalten. Das einzigartige Osterei oder der geborgte Weihnachtsbaum machen diese Feste trotz leerer Taschen für den Jungen zu unvergesslichen Erlebnissen.

Aber aus der bittersüßen Schwermut der späten Zwanziger wird immer mehr sarkastischer Galgenhumor. Denn plötzlich sind selbst die Krähen im Lustgarten und der Beruf eines Tierpräparators nicht mehr unpolitisch. Als Berlin aufhört, schön zu sein und aus dem Land ein Exerzierplatz wird, reisen Bruno und sein Vater nach Kalünz, auf ein Gut am vermeintlichen Ende der Welt. Doch der Vater hat sich geirrt: Kalünz ist keine Insel – und die Welt lässt sich nicht ungestraft verschweigen!

Ja, diese Geschichten gehen einem unaufdringlich, aber nachhaltig unter die Haut. Und ich finde, ein paar von ihnen wären prima in den Geschichtsbüchern unserer Schüler aufgehoben! Es ist nichts Belehrendes in ihnen – und doch vermitteln sie sehr eindrucksvoll die alltäglichen Erfahrungen aus einer noch gar nicht ganz so fernen Vergangenheit.

Und sollten Sie das große Glück haben, noch lebende Zeitzeugen zu kennen, dann regen Sie diese doch einfach mit Brunos Geschichten zum Erzählen an!

Wolfdietrich Schnurre

Als Vaters Bart noch rot war

Piper Verlag, 317 Seiten, Taschenbuch, EUR 9,90

Wolfdietrich Schnurre wurde 1920 geboren und wuchs im Nordosten Berlins auf. „Als Vaters Bart noch rot war“ erschien erstmals 1958. Schnurre definierte 1961 die Kurzgeschichte auf seine Weise:

„Sie ist, grob gesprochen, ein Stück herausgerissenes Leben. Anfang und Ende sind ihr gleichgültig; was sie zu sagen hat, sagt sie mit jeder Zeile. Sie bevorzugt die Einheit der Zeit; ihre Sprache ist einfach, aber niemals banal. Nie reden ihre Menschen in der Wirklichkeit so, aber immer hat man das Gefühl, sie könnten so reden. Ihre Stärke liegt im Weglassen, ihr Kunstgriff ist die Untertreibung.
...
In ihrem Mittelpunkt steht der Mensch. Nicht der Mensch, wie er sein könnte; der Mensch, wie er ist: geschunden, verfolgt, schuldbeladen, heimgesucht und verflucht...“

Schnurre protestierte 1961 vehement gegen den Mauerbau und trat sogar aus dem P.E.N.-Zentrum aus, da viele Schriftsteller einfach schwiegen. Den Fall der Mauer hat er leider nicht mehr erlebt. Er starb im Juni 1989 in Kiel.


Leseprobe:


Mit einem Schlage war es Frühling. Auf der abgestorbenen Ulme im Hof sang eine frühe Drossel, die Spatzen verschwanden mit ellenlangen Strohhalmen hinter der Dachrinne, und in den Schaufenstern der Papierhandlungen waren rotgelbe Triesel und stumpf glänzende Murmeln zu sehen.
Vater stand jetzt wieder früher auf, und wir gingen morgens immer in den Tiergarten, wo wir uns auf eine Bank in der Sonne setzten und dösten oder uns Geschichten erzählten, in denen Leute vorkamen, die Arbeit hatten und jeden Tag satt wurden.
War die Sonne mal weg, oder es regnete, gingen wir in den Zoo. Wir kamen umsonst rein; Vater war mit dem Mann an der Kasse befreundet.
Am häufigsten gingen wir zu den Affen; wir nahmen ihnen meist, wenn niemand hinsah, die Erdnüsse weg; die Affen hatten genug zu essen, sie hatten bestimmt viel mehr als wir.
Manche Affen kannten uns schon; ein Gibbon war da, der reichte uns jedesmal alles, was er an Eßbarem hatte, durch das Gitter. Nahmen wir es ihm ab, klatschte er über dem Kopf in seine langen Hände, fletschte die Zähne und torkelte wie betrunken im Käfig umher. Wir dachten zuerst, er machte sich über uns lustig; aber allmählich kamen wir dahinter, er verstellte sich nur, er wollte uns der Peinlichkeit des Almosenempfanges entheben.
Es sparte richtig für uns. Er hatte eine alte Konservenbüchse, in die tat er alles, was man ihm am Tag zu essen gegeben hatte, hinein. Wenn wir kamen, sah er sich jedesmal erst besorgt um, ob uns auch niemand beobachten könnte; dann griff er in seine Büchse und reichte uns die erste Erdnuß, nachdem er sie sorgfältig am Brustfell saubergerieben hatte, durchs Gitter.
Er wartete, bis wir eine Nuß aufgegessen hatten, darauf reichte er uns die nächste hinaus. Es war mühsam, sich da nach ihm zu richten; aber er hatte wohl seine Gründe für diese umständliche Art, uns die Nüsse zu geben; und wir mochten ihn auch nicht beleidigen, denn er hatte Augen, so alt wie die Welt, und Vater sagte immer: „Wenn das stimmt mit der Seelenwanderung und so, dann wäre es wohl das beste, als Gibbon wiederzukommen.“
Einmal fanden wir ein Portemonnaie mit zwanzig Pfennig darin. Erst wollten wir uns Brötchen kaufen; aber dann nahmen wir uns zusammen und kauften dem Gibbon ein Viertelpfund Rosinen dafür.
Er nahm die Tüte auch an. Er öffnete sie vorsichtig, roch behutsam am Inhalt, und darauf nahm er Rosine um Rosine heraus und legte sie achtsam in seine Konservenbüchse; und als wir am nächsten Tag kamen, reichte er uns das ganze Viertelpfund wieder, Rosine um Rosine, durchs Gitter, und uns blieb nichts weiter übrig, als sie zu essen, denn er war leicht zu verstimmen.

Mehr? —  Ein Gespräch mit Wolfdietrich Schnurre (Berlin, 1986)

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